Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden vom 26. April 2024 (Az. 3 U 79/23) bietet wichtige Einblicke in die Pflichten von Versicherungsvermittlern und hat jedenfalls für diesen Fall positive Folgen für ihre tägliche Praxis.
Das Gericht hat klargestellt, dass Versicherungsmakler unter bestimmten Umständen nicht verpflichtet sind, einem Kunden zum Abschluss bestimmter Versicherungen zu raten – in diesem Fall einer Risikolebensversicherung. Dieses Urteil verdeutlicht die Abwägung zwischen den Beratungspflichten eines Maklers und der Entscheidungsfreiheit des Kunden. Im Folgenden wird das Urteil im Detail betrachtet, und es werden Parallelen zu anderen relevanten Entscheidungen gezogen.
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Verletzung der Beratungspflichten – Fallzusammenfassung und Kontext
Im Fall des Oberlandesgerichts Dresden ging es um die Frage, ob ein Versicherungsmakler seiner Kundin zum Abschluss einer Risikolebensversicherung hätte raten müssen. Die Klägerin war die Witwe eines intensivmedizinisch tätigen Facharztes, der 2020 überraschend verstarb. In einem Beratungsgespräch im Juli 2020, in dem es um die Absicherung der Familie ging, wurde keine Risikolebensversicherung abgeschlossen. Nach dem Tod des Hauptverdieners stellte sich heraus, dass keine ausreichenden Versicherungen bestanden, um die Familie langfristig finanziell abzusichern.
Die Klägerin machte geltend, der Versicherungsmakler habe seine Pflicht verletzt, indem er nicht zum Abschluss einer Risikolebensversicherung geraten habe. Sie forderte Schadensersatz in Höhe von 500.000 €, da diese Summe ihrer Meinung nach für den Todesfall des Ehemanns ausreichend gewesen wäre. Das Landgericht Dresden sprach der Klägerin zunächst 375.000 € zu, das OLG Dresden hob dieses Urteil jedoch auf und wies die Klage in der Berufungsinstanz ab.
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Kernaussage des Urteils vom OLG Dresden
Das OLG Dresden stellte fest, dass ein Versicherungsmakler grundsätzlich nicht verpflichtet ist, jedem Kunden automatisch den Abschluss einer Risikolebensversicherung anzuraten. Folgende Punkte sind entscheidend für das Urteil:
Beratungspflicht und Dokumentation
Das Gericht erkannte zwar an, dass der Makler keine Beratungsdokumentation gemäß § 61 VVG (Versicherungsvertragsgesetz) angefertigt hatte, was eine Pflichtverletzung darstellt. Jedoch führt das Fehlen der Dokumentation nicht automatisch zu einer Umkehr der Beweislast. Es sei zwar wünschenswert, dass die Beratung umfassend dokumentiert werde, um spätere Streitigkeiten zu vermeiden, aber die Beweislastumkehr gilt nur in engen Grenzen. Der Makler muss nicht beweisen, dass eine umfassende Beratung stattgefunden hat, solange keine groben Verstöße gegen die Beratungspflicht erkennbar sind.
Subjektive Risikoeinschätzung des Kunden
Die Entscheidung, ob eine Risikolebensversicherung abgeschlossen werden soll, hängt stark von den individuellen Präferenzen und der Risikoeinschätzung des Kunden ab. Das Gericht betonte, dass es nicht Aufgabe des Maklers sei, eine Risikolebensversicherung aufzudrängen, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die eine solche Versicherung zwingend erforderlich machen.
Besondere Gefährdungssituation
Nur wenn objektiv eine besondere Gefährdungssituation vorliegt – zum Beispiel bei hochriskanten Berufen oder finanziellen Verpflichtungen wie einer Immobilienfinanzierung –, kann ein Makler verpflichtet sein, ausdrücklich auf eine Risikolebensversicherung hinzuweisen. In diesem Fall sah das Gericht jedoch keine solche Gefahr, obwohl der Ehemann der Klägerin in einem medizinisch riskanten Umfeld arbeitete. Das Gericht argumentierte, dass das allgemeine berufliche Risiko eines Arztes keine außergewöhnliche Gefährdung darstellt, die automatisch eine Beratungspflicht in Richtung Risikolebensversicherung auslöst.
Weitere relevante Entscheidungen zu den Beratungspflichten von Versicherungsmaklern
Das OLG Dresden hat in seinem Urteil auf mehrere frühere Entscheidungen verwiesen, die ähnliche Fragestellungen zum Inhalt hatten:
BGH-Urteil vom 13. November 2014 – III ZR 544/13
In dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) ging es ebenfalls um die Beratungspflicht von Versicherungsmaklern. Der BGH stellte klar, dass eine fehlerhafte oder unzureichende Beratung nicht allein auf Basis einer fehlenden Dokumentation angenommen werden kann. Der Makler muss zwar beweisen, dass eine Beratung stattfand, wenn er dies geltend macht, aber das Fehlen einer Dokumentation führt nicht automatisch zu einer Haftung.
OLG Karlsruhe – Beschluss vom 15. Februar 2006 – 15 W 59/05
In diesem Fall wurde festgestellt, dass die Beratung über Risikolebensversicherungen nicht zwingend erfolgen muss, wenn keine besonderen Umstände oder der explizite Wunsch des Kunden vorliegen. Das Gericht entschied, dass es dem Versicherungsmakler frei steht, dem Kunden keine Risikolebensversicherung anzubieten, wenn dieser keine entsprechenden Interessen signalisiert.
OLG Stuttgart – Urteil vom 30. März 2011 – 3 U 192/10
Auch dieses Urteil unterstreicht, dass eine besondere Gefährdungslage erforderlich ist, um dem Kunden aktiv eine Risikolebensversicherung nahezulegen. Hier wurde betont, dass die Absicherung des Todesfallrisikos eine persönliche Entscheidung des Kunden ist, die stark von dessen finanziellen und familiären Umständen abhängt.
OLG Celle – Beschluss vom 16. September 2019 – 11 U 74/19
In diesem Beschluss wurde klargestellt, dass der Umfang der Beratungspflicht eines Versicherungsmaklers von den individuellen Wünschen und Bedürfnissen des Kunden abhängt. Es ist nicht Aufgabe des Maklers, dem Kunden ohne Anlass Versicherungen aufzudrängen, solange keine objektiven Gründe dafür sprechen.
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Auswirkungen auf die Beratungspraxis von Versicherungsvermittlern
Auch wenn das Fehlen einer Beratungsdokumentation nicht automatisch zu einer Haftung führt, sollten Versicherungsvermittler dennoch darauf achten, die wesentlichen Inhalte jedes Beratungsgesprächs schriftlich festzuhalten. Insbesondere bei existenziellen Themen wie der Hinterbliebenenversorgung ist eine sorgfältige Dokumentation entscheidend, um sich vor späteren Haftungsansprüchen zu schützen.
Versicherungsvermittler müssen in ihrer Beratung die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Kunden berücksichtigen. Nicht jeder Kunde benötigt automatisch eine Risikolebensversicherung. Die Beratung sollte daher stets auf den persönlichen Lebensumständen und der Risikoeinschätzung des Kunden basieren.
Das Urteil betont die Bedeutung der subjektiven Einschätzung des Kunden hinsichtlich der Notwendigkeit einer Versicherung. Wenn der Kunde keine klare Präferenz äußert oder keine außergewöhnlichen Risiken bestehen, darf der Vermittler darauf vertrauen, dass der Kunde keine entsprechende Absicherung wünscht.
Versicherungsvermittler sollten sich der Grenzen ihrer Beratungspflicht bewusst sein. Sie sind nicht verpflichtet, jedem Kunden zu jeder möglichen Versicherung zu raten, wenn keine objektiven Gründe dafürsprechen. Dies gilt besonders in Fällen, in denen keine besonderen Gefährdungssituationen vorliegen.
Handlungsempfehlungen für Versicherungsvermittler
- Die Dokumentation der Beratungsgespräche sollte stets umfassend und detailliert erfolgen. Dies schützt den Makler im Falle von Streitigkeiten und hilft, seine Beratungspflicht nachzuweisen.
- Die Beratung sollte auf den individuellen Absicherungsbedarf des Kunden abgestimmt sein. Bei Familien mit Alleinverdienern, Immobilienfinanzierungen oder besonders riskanten Berufen sollte der Vermittler explizit auf das Risiko und mögliche Absicherungsmöglichkeiten hinweisen.
- Der Versicherungsvermittler sollte klar und transparent über die verschiedenen Versicherungsmöglichkeiten informieren und den Kunden aktiv einbeziehen, um dessen Vorstellungen und Wünsche besser zu verstehen.
- In Fällen, in denen der Kunde besondere Ängste oder Bedenken äußert, wie etwa im vorliegenden Fall die Angst vor einer Covid-Infektion, sollte der Vermittler diese ernst nehmen und entsprechende Absicherungsmöglichkeiten vorschlagen.
Das Urteil des OLG Dresden zeigt, dass Versicherungsvermittler zwar umfassende Beratungs- und Dokumentationspflichten haben, aber nicht automatisch haften, wenn der Kunde eine Risikolebensversicherung nicht abschließt. Entscheidend ist, dass die Beratung den individuellen Bedürfnissen und der subjektiven Risikoeinschätzung des Kunden entspricht. Versicherungsvermittler sollten sorgfältig dokumentieren, welche Empfehlungen sie gegeben haben, und die Beratung auf die persönlichen Lebensumstände der Kunden abstimmen, um mögliche Haftungsrisiken zu minimieren.
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